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Glossar

Minsk (Ghetto)

Mitte September 1941 hob Hitler sein Verbot der Deportation deutscher Juden auf und gab Himmler (Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei) entsprechenden Freiraum, die "Endlösung der Judenfrage" einzuleiten. Am 18.10.41 erließ dieser das Auswanderungsverbot für Juden; am 25.10.1941 fand die erste Deportationswelle mit 20.000 Juden aus dem "Altreich" nach Litzmannstadt (Lodz) statt.

Am 24. Oktober 1941 gab der Chef der Ordnungspolizei Daluege den örtlichen Befehlshaber der Ordnungspolizei und der SS den Befehl zur Auskämmung Deutschlands von Westen nach Osten. Der sogenannte Evakuierungsbefehl ordnete den „Arbeitseinsatz im Osten“ von rund 50.000 Juden an. Es hieß, sie würden im Osten für den Wiederaufbau zerstörter Städte benötigt. Da sich die Gauleiter im besetzten Polen weigerten, weitere Juden aus dem Reich aufzunehmen, wurden für die zweite Deportationswelle nun Ziele in der besetzten Sowjetunion ausgewählt, Minsk und Riga als Zwischenstationen auf dem Weg zur Eismeerküste und Sibirien.

Die Stadt Minsk war am 28. Juni 1941 von deutschen Truppen erobert worden. Bereits im Juli wurde ein zwei Quadratkilometer großer Bereich des Stadtgebietes, ca. 40 Straßen umfassend, zum Ghetto erklärt. Hier wurden anfänglich über 60.000 Juden auf engstem Raum zusammengepfercht: 1,5 qm pro Person, kein Strom, kein Heizmaterial bei Temperaturen im Winter unter 40 Grad, Wasser aus Gemeinschaftsbrunnen, täglich eine Wassersuppe und 80 bis 150 g Brot. Hunger, Krankheit und Tod waren allgegenwärtig.

Um Platz für die Neuankömmlinge aus dem Reichsgebiet zu schaffen, wurden im November 1941 mehr als 12.000 weißrussische Juden ermordet. Die eintreffenden knapp 7. 000 reichsdeutschen Juden wurden in einem gesonderten Ghettobezirk neben dem mit Stacheldraht abgegrenzten Hauptghetto untergebracht. Die Unterbringung erfolgte nach regionaler Herkunft, so gab es z.B. ein Bremer Lager. Im Sonderghetto I wohnten die Deportierten aus Hamburg, Düsseldorf und Frankfurt/M, im Sonderghetto II die Deportierten aus Berlin, Brünn, Wien und Bremen.

Der Hamburger Transport erreichte als erster am 11. November Minsk, daher bestimmte die SS den Transportleiter Dr. Edgar Frank zum Judenältesten, der im März 1942 umgebracht wurde. Zu seinem Nachfolger wurde der Bremer Erich Harf bestimmt; er wurde wahrscheinlich im Sommer 1942 getötet. Im Hamburger "roten Haus" wurde mit den Frankfurtern eine Notküche eingerichtet, die später alle Reichsdeutschen mit Suppe zu versorgen hatte. In den ersten zwei Monaten wurden keine Nahrungsmittel an Ghettoinsassen, mit Ausnahme der Arbeitskommandos, verteilt.

Aus Bremen wurden 443 jüdische Männer, Frauen und Kinder am 18.11.1941 in das Ghetto Minsk deportiert; hinzu kamen 130 Personen aus dem Regierungsbezirk Stade. Der Ausweisungsbefehl der Gestapo Bremen wurde den Betroffenen um den 11.11. zugestellt. Jeder durfte nur einen Koffer und Handgepäck bis zu 50 kg mitnehmen, sonstiges Hab und Gut blieben zurück. In kleinen Gruppen wurden sie am Morgen des 18. von zwei Sammelstellen zum Lloyd-Bahnhof geführt. Die Wohnungen wurden versiegelt, später dann ausgeraubt und das Inventar versteigert.

Am Bahnhof mussten die Verhafteten unterschreiben: „Ich, der unterzeichnete Jude, bestätige hiermit, ein Feind der Deutschen Regierung zu sein und als solcher kein Anrecht auf das von mir zurückgelassene Eigentum, auf Möbel, Wertgegenstände, Konten oder Bargeld zu haben. Meine deutsche Staatsbürgerschaft ist hiermit aufgehoben und ich bin vom 18. November ab staatenlos.“

Der Zug fuhr, von Wachpersonal begleitet, mit ca. 570 Personen um 8:40 Uhr aus Bremen ab und traf gegen 11:30 Uhr im Hannöverschen Bahnhof in Hamburg ein. Dort wartete ein Zug mit ca. 408 Hamburger Juden auf die Weiterfahrt. Die zusammengekoppelten Züge trafen am 22.11.1941 in Minsk ein.

Von den Bewohnern des Sonderghettos waren ca. 1.400 zur Zwangsarbeit eingesetzt. Sie wurden jeden Tag in Kolonnen zu ihren Arbeitsstellen gebracht. Trotz Schwerstarbeit bestand für sie durch den Arbeitseinsatz ein vorübergehender Schutz vor ständig stattfindenden Übergriffen und sie wurden besser ernährt. Bei wahllosen Ermordungen wurde beispielsweise der Bremer Kaufmann Erich Alexander erschossen, weil er sich nicht zu einer Nachmusterung gemeldet hatte; Erich Seligmann, weil er vermutlich Benzin in das Ghetto geschmuggelt hatte.

Nach der "Wannseekonferenz" (21.1.1942) besuchten nacheinander Eichmann (RSHA), Heydrich (Chef der Sicherheitspolizei) und Himmler im März das Ghetto und ordneten an, dass nunmehr auch die deutschen Juden zu vernichten seien. Daraufhin kam es zur größten "Aktion", der die als nicht arbeitsfähig eingestuften Ghettoinsassen zum Opfer fielen. Im Bericht des zuständigen Generalkommissars für Weißruthenien und sog. „Judenschlächters von Minsk“ Wilhelm Kube heißt es lapidar: „In Minsk-Stadt sind am 28. und 29. Juli 1942 rd. 10.000 Juden liquidiert worden, davon 6.500 russische Juden, überwiegend Alte, Frauen und Kinder. Der Rest bestand aus nicht einsatzfähigen Juden, die überwiegend aus Wien, Brünn, Bremen und Berlin im November vorigen Jahres nach Minsk (...) geschickt worden sind.“ Die Reichsdeutschen wurden mehrheitlich in Gaswagen auf dem Weg nach Blagowschtschina, einer Waldlichtung in der Nähe von Trostenez, erstickt.

Nach diesem Pogrom lebten noch ca. 2.600 Deportierte im Sonderghetto. Ab Frühjahr 1943 wurden auch sie in beständigen "Aktionen" ermordet, größtenteils bei einem Massaker am 8.5.1943. Bei der Auflösung des Ghettos ab September 1943 lebten noch ca. 1.000 Menschen. Ca. 300 von ihnen - vor allem junge, alleinstehende Männer, vom Ghettokommandanten Rübe selektiert - wurden zunächst nach Lublin und dann in weitere Lager im besetzten Polen deportiert. Nahezu alle anderen wurden bis Oktober 1943 umgebracht. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand haben lediglich etwa 50 Personen das Sonderghetto überlebt.

Von den Bremer Deportierten überlebten nur sechs Männer: Curt Anspacher (Achim), Werner Blumert (Zeven), Hans und Richard Frank (Bremen), Heinz Menkel (Leer) und Martin Spanier (Verden). Weitere sechs erreichten mit ihnen im August 1944 das KZ Flossenbürg (Ernst-Moritz Abraham, Hermann Altgenug, Moritz Cohen, Fredy Deichmann, Nathan Wand und Walter Warschauer). Sie erlebten ihre Befreiung nicht mehr.

Die Lebensbedingungen im russischen Hauptghetto waren noch erbärmlicher. Die Weißrussen hatten jedoch den Vorteil, an die Klimabedingungen besser angepasst zu sein und es bestanden Kontakte zur Außenwelt. Es konnte eine aktive Untergrundbewegung aufgebaut werden. Sie verhalf 10.000 Juden zur Flucht zu den Partisanen in die umliegenden Wälder. Viele verloren aber auch dabei ihr Leben. Die genaue Anzahl der in Minsk ermordeten weißrussischen Juden ist nicht bekannt.

In den Massenvernichtungsstätten von Trostenez, 11km südöstlich von Minsk, wurden neben den weißrussischen Ghettoopfern und sowjetischen Kriegsgefangenen zwischen Mai und Oktober 1942 noch mehr als 16.000 Juden aus Wien, Theresienstadt, Königsberg und Köln sofort nach ihrer Ankunft ermordet. Eine Gesamtopferzahl ist nicht mehr zu ermitteln. Die Schätzungen schwanken zwischen 60.000 (dt. Historiker) und über 200.000 (russ. Historiker) Menschen. Am 3.7.1944 wurde Minsk von der Roten Armee befreit.


Quellen / Weitere Informationen:
Christof­fer­sen, Peter: „Es war ein ein­zi­ges Grau­en“ – Die De­por­ta­ti­on der Bre­mer Ju­den in das Ghet­to Minsk und ihre Ver­nich­tung, in: Christof­fer­sen, Pe­ter/​Johr, Bar­ba­ra, (Hrsg.): Stol­per­stei­ne in Bre­men, Schwach­hau­sen/​Horn-Lehe, Bre­men 2017*

Es geht tatsächlich nach Minsk. Texte und Materialien zur Erinnerung an die Deportation von Bremer Juden am 18.11.1941 in das Vernichtungslager Minsk. Zusammengestellt von Andreas Röpke, Günther Rohdenburg, Kleine Schriften des Staatsarchivs Bremen, Heft 21. Bremen: Staatsarchiv, (1992) 2001. 2. überarb. Auflage

Rohdenburg, Günther (Bearb.), „Judendeportationen“ von Bremerinnen und Bremern während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. 2., überarb. Aufl., Bremen 2009

Bruss, Regina, Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus, Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 49, Bremen 1983

Gutmann (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust, Band II, Berlin 1993, S. 950-953

Hecker, Clara, Deutsche Juden im Minsker Ghetto, in: Zeitschrift f. Geschichtswissenschaft, 2008, S. 823-843

Loewenstein, Karl, Minsk, Bonn 1961

Meyer, Beate (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933-1945, Hamburg 2006

Reuss, Anja/Schneider, Kristin (Hrsg.), Berlin-Minsk, Berlin 2013

Rentrop, Petra, Tatorte der "Endlösung", Das Ghetto Minsk und die Vernichtungsstätte von Maly Trostinez, Berlin 2011

Rentrop, Petra, Weissrussland, in: Benz/Distel, Der Ort des Terrors, Bd. 9, München 2009, S. 373-389

Junge-Wentrup, Peter (Hrsg.), Der Vernichtungsort Trostenez in der europäischen Erinnerung, Materialien zur internationalen Konferenz vom 21.-24.3.2013 in Minsk, Dortmund o.J.

*Der aktualisierte Beitrag ist zu finden unter http://www.spurensuche-bremen.de/spur/deportation-ins-ghetto-minsk/


Peter Christoffersen (2019)


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