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Glossar

Kindertransporte

Durch den Novemberpogrom war auch im Ausland deutlich geworden, in welcher unmittelbaren Gefahr sich die in Deutschland verbliebenen Juden befanden. Unter diesem Eindruck entstand eine Initiative britischer Juden, die es – mit Unterstützung durch die britische Regierung und unter hohem finanziellen Aufwand – erreichte, dass etwa 10.000 jüdische Kinder im Alter von drei Monaten bis zu 17 Jahren aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei mit den „Kindertransporten“ nach England ausreisen konnten und dort von Pflegefamilien oder Institutionen aufgenommen wurden.

Einige Kinder verließen England bald wieder wie der zwölfjährige Herbert Goldschmidt aus Bremen, der drei Monate später nach Südafrika zu seinem Vater weiterreisen konnte; die anderen blieben in England und machten unterschiedliche Erfahrungen: von der fürsorglichen Aufnahme in eine Familie bis zur rücksichtslosen Ausnutzung ihrer Arbeitskraft. Bisweilen wurden sie auch von ihrer englischen Umgebung als „feindliche Ausländer“ wahrgenommen wie die vierzehnjährige Ursel Glasfeld aus Berlin (die spätere Frau von Herbert Goldschmidt), als sie in der Untergrundbahn beschimpft wurde, weil an der Art und Weise, wie sie einen Pullover strickte, ihre Herkunft aus Deutschland zu erkennen war.

Die „Transportkinder“ fühlten sich keineswegs als glückliche Überlebende, sondern waren durchweg traumatisiert: die älteren Kinder hatten die Situation bei der Abreise aus Deutschland verstanden und bangten um ihre Eltern, die dann zumeist der Shoah zum Opfer fallen und von deren Schicksal sie erst Jahre nach dem Krieg erfahren sollten. Später litten sie wegen ihres Überlebens unter Schuldgefühlen. Sofern Kinder bei der Abreise zu jung waren, um die Situation verstehen zu können, hatten ihnen die Eltern meistens versprochen, „bald nachzukommen“. Der Bruch dieses Versprechens löste bei den Kindern schwere psychische Schäden aus, die auch dann fortbestanden, wenn es später zu einem Wiedersehen mit den Eltern kam.

Der traumatische Identitätsverlust der „Transportkinder“, denen „Heimat, Sprache und Name geraubt“ worden war, beeinflusste nicht nur psychologische Theorien, sondern hat auch Künstler angeregt. Hervorzuheben sind der Dokumentarfilm “Into the Arms of Strangers. Stories of the Kindertransports“ von Mark Jonathan Harris (2000) und der Roman „Austerlitz“ des deutschen Autors W.G. Sebald (2001).


Quellen / Weitere Informationen:
Wikipedia-Artikel „Kindertransport“

Bertha Leverton, Shmuel Lowensohn (eds.), I came alone. The Stories of the Kindertransports, 1990 (eine Sammlung autobiographischer Texte)

Bettina Decke, „Du mußt raus hier!“. Lotte Abraham-Levy: Eine Jugend in Bremen, Bremen 1998


Michael Cochu (2011)


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