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Glossar

Auswanderung, Flucht und Vertreibung

Deutschlandweit emigrierten zwischen 1933 und 1941 mehr als die Hälfte der hier lebenden 525.000 Juden. Zu einer ersten Fluchtwelle kam es nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933, in deren Folge am 1. April jüdische Geschäfte, Arztpraxen, Banken und Anwaltskanzleien boykottiert wurden. Darüber hinaus erlaubte das am 7. April erlassene „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, den größten Teil der Juden aus dem Staatsdienst zu entfernen. Vor allem Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Künstler verließen noch im selben Jahr das Land, darunter sehr viele Juden. Die meisten der rund 37.000 Emigranten flohen in europäische Nachbarländer, vorzugsweise nach Frankreich.

Zwischen 1933 und 1935 war die Auswanderung noch ohne große Vermögensverluste möglich, die Fluchtwelle ebbte aber allmählich ab. Die zweite große Auswanderungswelle begann im Herbst 1935. Der wesentliche Auslöser waren die „Nürnberger Gesetze“ vom 15. September 1935. Eine gewaltige dritte Fluchtwelle setzte nach der „Reichskristallnacht“ am 9./10. November 1938 ein. Bis zum Jahresende verließen rund 40.000 Menschen das Land. Die meisten von ihnen flüchteten nach Übersee, vor allem in die USA.

Immer restriktivere Bestimmungen erschwerten den jüdischen Flüchtlingen nach 1938 die Emigration. Wer auswandern wollte, musste einen gültigen Reisepass und ein Visum besitzen. Er hatte die Reichsfluchtsteuer zu entrichten, eine Abgabe für ins Ausland transferiertes Geld; im Jahr 1934 waren dies noch 65 Prozent der Gesamtsumme, im September 1939 bereits 96 Prozent. Die Menge des Bargeldes, das Auswanderer mitnehmen durften, war auf zehn Reichsmark (RM) begrenzt. Flüchtlinge mussten zudem vor der Ausreise eine Pack-Erlaubnis besitzen, eine amtlich genehmigte Umzugsliste erstellen, auf Neuerwerbungen Abgaben bis zu 300 Prozent des Anschaffungswertes zahlen, ihr Umzugsgut kontrollieren lassen und eine amtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung vorweisen können. Wenn sich auch nur eine dieser vorgeschriebenen Formalitäten verzögerte, konnte die Reise nicht angetreten werden.

Ein zusätzliches Hindernis für die legale Auswanderung von Juden waren die rigiden Einwanderungsbestimmungen der Zielländer. Nach der großen Weltwirtschaftskrise herrschte in allen Staaten – sowohl in Europa als auch in Übersee – immer noch die Massenarbeitslosigkeit. Daher genehmigten die Staaten in der Regel vor allem landwirtschaftlichen Arbeitern, industriellen Facharbeitern und Handwerkern die Einreise, denn in diesen Berufsgruppen herrschte Mangel. Die deutschen Juden hingegen waren im Wesentlichen kaufmännisch und akademisch ausgebildet und schon deshalb nicht willkommen. Ein weiteres Problem: wegen der antisemitischen Haltung ihrer Regierung und der wirtschaftlichen Verelendung wanderten nach 1933allein aus Polen jährlich etwa 100.000 Juden in andere Länder aus. Die Chancen für die Auswanderung der deutschen Juden wurden dadurch zusätzlich begrenzt.

Infolge der Weltwirtschaftskrise hatten auch die Vereinigten Staaten von Amerika die Einreisebestimmungen deutlich verschärft und Einreise-Quoten eingeführt. USA-Einwanderer mussten nun ein Affidavit vorweisen, also die Bürgschaft eines US-Bürgers, der sich damit verpflichtete, notfalls für die Neubürger zu sorgen. Zwischen 1939 und 1941 kamen für die Flüchtlinge schließlich nur noch wenige Ziele in Frage, darunter einige südamerikanische Länder oder Shanghai, das kein Visum verlangte. Zeitgleich mit dem Beginn der Deportationen am 23.Oktober 1941 untersagte das NS-Regime generell die Auswanderung von Juden aus Deutschland. Dennoch gelang es noch etwa 300.000 Juden, über die Grenze zu entkommen. 165.000 blieben im Deutschen Reich zurück, viele von ihnen in Berlin.

Insgesamt haben 775 Bremer Juden die Gewaltherrschaft nicht überlebt. 1034 Bremer Juden konnten sich durch die Emigration retten.



Imke Molkewehrum (2011)


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