Sie befinden sich hier | Kapitelüberschrift  Stolpersteine Biografie
Schriftgroesse verkleinern Schriftgroesse normal Schriftgroesse vergrössern
Diese Seite ausdrucken

Anna Stiegler, geb. Behrend, *1881

IM WIDERSTAND/SPD, VERHAFTET 1935, „VORBEREITUNG HOCHVERRAT“, ZUCHTHAUS LÜBECK, 1939 RAVENSBRÜCK, „TODESMARSCH“
ÜBERLEBT


Neukirchstraße 63
Bremen-Findorff

Verlegedatum: 14.06.2022


Neukirchstraße 63 - Weitere Stolpersteine:


Anna Stiegler

Anna Stiegler
Johann Carl Friedrich Stiegler wurde am 2.5.1891 in Bremen geboren. Seine Eltern waren Carl Stiegler (aus Wiesau/Oberpfalz) und Adelheid, geb. Ladwig. Am 16.3.1916 heiratete er Anna Sophie Marie Auguste Behrend, geboren am 21.4.1881 in Penzlin, Amt Güstrow (Mecklenburg-Vorpommern). Ihre Eltern waren der Landarbeiter Johann Heinrich Wilhelm Behrend und Friederike Wilhelmine Elise geb. Stoldt.

Carl Stiegler wohnte bis 1912 bei seinen Eltern in der Schröderstraße, meldete sich Ende 1913 aus Bremen ab und lebte in Hamburg-Altona. Von 1914 bis 1918 nahm er beim Infanterie-Regiment Nr. 31 am Ersten Weltkrieg teil. Er meldete sich am Tag seiner Hochzeit, dem 16.3.1916, wieder in Bremen an. Anna Behrend, die früher schon in der Grünenstraße gewohnt hatte, war 1912 aus Blumenthal nach Bremen gekommen. Als Ehepaar lebten sie dann von 1917 bis 1934 in der Mainzer Straße 9 bei der verwitweten Frau Gloth. Die Mainzer Straße existiert heute nicht mehr, sie lag zwischen Nord- und Lloydstraße.

Auf der Einwohnermeldekarte waren die Stieglers zunächst als evangelisch eingetragen. Dieser Vermerk wurde später durchgestrichen und durch „di(ssident)“, i.e. konfessionslos, ersetzt. Das Ehepaar hatte keine Kinder.

Carl Stiegler hatte ab 1935 zunächst das Küperhandwerk erlernt, aber die Lehrzeit nicht beendet und als ungelernter Arbeiter in verschiedenen Betrieben vor und nach dem Ersten Weltkrieg gearbeitet, auch als Typograf/Buchdrucker. Von 1927 bis 1932 war er als Lagerarbeiter bei der KONSUMgenossenschaft „Vorwärts“ tätig. Die Zentrale befand sich in der Holsteiner Straße 91, heute REWE. „Vorwärts“ hatte insgesamt über 40 Verteilstellen für Konsumwaren in Bremen.

Ehefrau Anna Stiegler war über ihren ersten Ehemann, den Schneider Konrad Vogt, zur Arbeiterbewegung gestoßen und nahm 1904 am SPD-Parteitag und der gleichzeitig stattfindenden Sozialdemokratischen Frauenkonferenz in Bremen teil. Im Zuge ihrer politischen Arbeit für die SPD lernte sie auch Carl Stiegler kennen, mit dem sie seit 1912 zusammenlebte. 1917 trat sie zur USPD über, wurde 1918 in die Bremische Bürgerschaft gewählt, der sie bis 1933 angehörte (ab 1922 wieder in der SPD).

Die Untergrundaktivitäten der verbotenen SPD wurden verraten. Wegen illegaler Widerstandsarbeit verhaftete die Gestapo Anna und Carl Stiegler sowie viele andere Genossen. 1935 wurde Anna Stiegler zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, die sie in Gefängnissen in Bremen und u.a. in Lübeck verbrachte. In der „Anklageschrift gegen Osterloh und Genossen“ wird auch ihr Mann erwähnt, der aber zunächst nur zwei Jahre Haft erhielt: „Frau Stiegler war nächst Osterloh das tätigste Mitglied des illegalen Parteivorstandes. Die von ihr ausgehenden Fäden laufen zu fast allen Beschuldigten. Zum Austragen der Flugblätter und Sammeln des gestifteten Geldes hat sie sich teilweise ihres Ehemannes bedient“. In der Urteilsschrift hieß es dann, dass Carl Stiegler „über das Bestehen der illegalen Organisation unterrichtet war. Möglicherweise ist es ihm nicht klar geworden, daß gerade seine Ehefrau die führende Funktionärin des verbotenen Kreises war, denn er selbst ist, wenn er auch überzeugter Marxist ist, doch kein politischer Aktivist.“.

Nachdem Anna Stiegler ihre fünfjährige Haft abgesessen hatte, kam sie 1939 in das Konzentrationslager Ravensbrück in „Schutzhaft“. In Berichten österreichischer Überlebender wurde sie als „Engel von Ravensbrück“ bezeichnet. Sie überlebte den "Todesmarsch" 1945.

Nach der Einwohnermeldekarte waren Stiegler wie seine Ehefrau 1934 von Bremen nach Hagenow abgemeldet. Da Anna Stiegler aus Mecklenburg-Vorpommern stammte, könnte sie dort Verwandte gehabt haben. Es gibt in Hagenow aber auch bis heute ein Stieglersches Haus, sodass auch Carl Stiegler dort bei einem Verwandten gemeldet gewesen sein könnte. Die Meldeakten sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das Ehepaar, insbesondere Anna Stiegler, waren als SPD-Mitglieder und Nazi-Gegner bekannt, und in Hagenow konnte sie besser untertauchen oder durch Adressenänderung der politischen Verfolgung in Bremen leichter entkommen.

Carl Stiegler wurde wie seine Frau wegen seiner politischen Gesinnung und aktiven NS-Gegnerschaft auch nach Verbüßung der Gefängnisstrafe verfolgt. Man nahm ihn mehrfach in Haft wegen „illegaler Betätigung“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“. Im Anerkennungsbescheid des Landesamtes für Wiedergutmachung vom 6.3. 1956 heißt es, dass „nach den glaubwürdigen Angaben der hinterbliebenen Ehefrau A.S. ihr Ehemann bereits am 2.1.1935 verhaftet und in mehrere Haftanstalten und Gefängnisse eingeliefert“ worden sei. Die Bremer Kripo gibt 1956 an, dass er die längste Zeit in der Haftanstalt Vechta verbringen musste. Nach Verbüßung der Strafe dort wurde er für eine Woche wieder im Bremer Polizeigefängnis festgehalten, bevor man ihn ins Konzentrationslager Sachsenhausen brachte.

Dort wurde Carl Stiegler am 18.2.1937 eingeliefert (und nicht am 12.2., wie in einigen Dokumenten angegeben) – registriert unter der Häftlingsnummer 000446. 1938 erhielt er die neue Häftlingsnummer 10816. Zunächst befand sich Stiegler im Häftlingsblock 7, später im Häftlingsblock 04. Für den 14.1.1944 findet sich folgende Anmerkung des „Häftlings-Geld- und Effektenverwalters“ zu Carl Stiegler: „Meldung: vom Urlaub zurück; war vom 16.12.43 – 13.1.44 beurlaubt“. Nach Auskunft der Gedenkstätte Sachsenhausen kam es durchaus gelegentlich vor, dass Häftlinge vom Konzentrationslager „beurlaubt“ wurden, also nach Hause fahren konnten, z.B. wenn es einen Todesfall in der Familie gab. Bei Stiegler ist kein Grund angegeben. Eine „Beurlaubung“ bedeutete keineswegs, dass Häftlinge ihrem Schicksal entkommen konnten.

Überhaupt ist Stieglers Aufenthalt durch mehrfache Meldungen im Krankenbau gut dokumentiert. Daraus ergibt sich, dass er noch am 30.1.1945 in Sachsenhausen inhaftiert war (Veränderungsmeldungen Krankenbau). Anna Stiegler: „Die letzte Nachricht aus Sachsenhausen bekam ich im März 1946 mit der Nachricht, daß er auf Transport käme und wahrscheinlich nach Bergen-Belsen“. In einigen Veröffentlichungen wird vermutet, dass Carl Stiegler während des Transports nach Bergen-Belsen erschossen worden sei. Renate Meyer-Braun schreibt, dass Carl Stiegler erst in Bergen-Belsen umgekommen sei.

Anna Stiegler kam am 17.12.1946 wieder nach Bremen zurück. In ihren autobiografischen Aufzeichnungen heißt es: „Meine Wohnung war ausgebrannt und der härteste Schlag: die Gewißheit, daß mein Mann auf einem Transport, wahrscheinlich in Bergen-Belsen, umgekommen sei“. Sie wurde bald wieder politisch aktiv, u.a. als SPD-Mitglied der Bürgerschaft (bis 1963). In vielen Ämtern zeigte sie großes sozial-, frauen- und friedenspolitisches Engagement. Dafür wurde sie mehrfach geehrt, u.a. ist eine Straße in Bremen-Kattentrum nach ihr benannt.

Verfasser:
Franz Dwertmann (2022)

Informationsquellen:
StA 4,59-E 46, Einwohnermeldekartei, StA B9 - Gerichtsakten: Prozess gegen Osterloh und Genossen
Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen
Einwohnermeldeamt und Museum Hagenow
ITS Arolsen
König, Johann-Günther: Anna Stiegler, in: Die streitbaren Bremerinnen, Bremen 1981, S.277-321
Marßolek, Inge / Ott, René: Bremen im Dritten Reich. Anpassung, Widerstand, Verfolgung. Bremen 1986
Meyer-Braun, Renate: Anna Stiegler, in dies. (Hrsg): Frauen ins Parlament! Porträts weiblicher Abgeordneter in der Bremischen Bürgerschaft, Bremen 1991, S. 238-266
Dies. in Bremer Frauenmuseum (Hrsg): FrauenGeschichte(n). Bremen 2016 https://bremer-frauenmuseum.de/
Stiegler, Anna: Mein Leben. Eine autobiografische Artikelserie in: Bremer Bürgerzeitung, April 1961

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Politisch Verfolgte