Sie befinden sich hier | Kapitelüberschrift  Stolpersteine Biografie
Schriftgroesse verkleinern Schriftgroesse normal Schriftgroesse vergrössern
Diese Seite ausdrucken

Marie Huntemann, geb. Harianer, *1863

gedemütigt/entrechtet
Flucht in den Tod 25.7.1942


Fährer Kämpe 101
Bremen-Vegesack
ehemalige Straßenbezeichnung: Schillerstr. 53

Marie Huntemann

Marie Huntemann

Am 25.7.1942 wurde in Höhe der kleinen Ortschaft Mittelsbüren die Leiche einer alten Frau aus der Weser geborgen: Marie Huntemann aus Fähr-Lobbendorf, Schillerstraße 53 (heute Fährer Kämpe 101).

Als Marie Harianer kam sie 1863 im alten jüdischen Viertel von Krakau zur Welt. Weil im Zuge der Industrialisierung Arbeitskräfte in Bremen-Nord gesucht wurden, zog sie mit ihrem ersten Mann Hermann Jakobsohn ins preußische Aumund und bekam hier ihre beiden Söhne Moritz (1888) und Hermann (1890).

Nach dem frühen Tod ihres Mannes heiratete sie 1893 Diedrich Huntemann (1855-1928) aus der Fährer Schillerstraße und trat gleichzeitig zur evangelischen Kirche Aumund über. Das fiel ihr nicht schwer, weil sie in Krakau in einer christlichen Pflegefamilie aufgewachsen war. Aus der zweiten Ehe ging ihr dritter Sohn Ernst (geb. 1895) hervor, der bereits evangelisch getauft wurde. Als Erwachsene ließen sich auch Moritz und Hermann nach ihrer Eheschließung mit christlichen Frauen 1920 taufen.

Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, machte sich die inzwischen verwitwete Marie Huntemann trotz mancher Ausschreitungen auch in Vegesack zunächst um sich selbst keine Sorgen. Sie sah sich seit 40 Jahren als Deutsche und als Christin und ihr Name klang unverdächtig. Zusammen mit Sohn Ernst, Schwiegertochter und Enkelin wohnte sie in einem kleinen Siedlungshaus in Fähr-Lobbendorf, einer Arbeitergemeinde mit überwiegend Sozialdemokraten und Kommunisten. Sohn Moritz lebte mit Frau und Kindern gleich um die Ecke in der Kaiserstraße, die nun Adolf-Hitler-Straße hieß, und Sohn Hermann mit Familie nicht viel weiter entfernt in der Lindenstraße.

Aber die Kinder der Jakobsohns waren aufgrund ihrer jüdischen Namen bitteren Anfeindungen ausgesetzt. „Ihr Juden habt doch unseren Herrn Jesus ans Kreuz geliefert“ bekamen sie von Mitschülern zu hören, und ein Lehrer der Hammersbecker Schule spuckte auf dem Schulhof mehrfach vor der einen Enkelin aus und schimpfte sie „Judenbalg“.

Im September 1935 verkündete Reichstagspräsident Hermann Göring die Nürnberger Rassengesetze. Marie Huntemann und ihre Söhne Moritz und Hermann galten nun als „Volljuden“. Sohn Ernst wurde als „jüdischer Mischling ersten Grades“ eingestuft. Weil sie in so genannten „privilegierten Mischehen“ lebten, waren sie lange Zeit vor Marie der Deportation geschützt. Aber alle drei Söhne, die als Kapitän, Steuermann und Maschinist angesehene und gut bezahlte Berufe hatten, verloren ihre Arbeitsplätze aus „rassischen“ Gründen und wurden zur Zwangsarbeit in Kiesgruben, Putzkolonnen und als Netzeflicker verpflichtet.

Verwandte und Freunde, die nun stramme Nazis geworden waren, wendeten sich von den Familien ab und grüßten nicht mehr. Am Aumunder Rathaus hing ein Schaukasten des Hetzblattes „Der Stürmer“. Die Huntemanns und Jakobsohns lasen nun schwarz auf weiß, dass sie als Juden „unser Unglück“ waren und als Ungeziefer, Blutsauger, Ratten und Wanzen galten. Und sie bekamen mit, wie die ersten Fähr-Lobbendorfer Juden Deutschland verließen, bevor es zu spät war.

In der Reichspogromnacht 1938 wurde auch Moritz Jakobsohn verhaftet und im Lesumer Gefängnis gequält und gepeinigt. Vor seiner Entlassung nach vier Wochen musste er unterschreiben, dass er sobald wie möglich Deutschland verlassen werde, andernfalls werde er in ein Konzentrationslager eingewiesen. Zu seiner Familie kehrte er als gebrochener Mann zurück, der nie mehr über seinen Gefängnisaufenthalt sprechen sollte. Vor der Tür sahen die Nachbarn nun immer häufiger die Gestapo vorfahren. Von nun an bis in die Kriegsjahre nahmen die Schikanen immer mehr zu: Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmung von Büchern, Radios und Elektrogeräten. Insbesondere Marie Huntemann als „Volljüdin“ war von diesen Maßnamen besonders betroffen. Sie lebte nun in Angst und Schrecken, ging kaum noch auf die Straße und verkümmerte von einer einst stattlichen Frau zu einer dürren Greisin, die ab und zu von mitleidigen Nachbarn mit Essen versorgt wurde.

Im Juli 1942 erhielt Marie Huntemann einen Brief der Bezirksstelle Bremen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Der Brief enthielt die Mitteilung, dass sie am 23. Juli in das Ghetto Theresienstadt deportiert werden sollte. Ihr gesamtes Hab und Gut wurde rückwirkend beschlagnahmt. Zuvor sollte sie sich am 14. Juli, ihrem 79. Geburtstag, in der Bezirksstelle Legion-Condor-Straße 1 (heute Parkstraße) einfinden, um Näheres zu erfahren. Ein trauriger letzter Geburtstag voller Verzweiflung und Not, die sie mit niemandem teilen konnte, weil es ihr untersagt wurde, darüber zu sprechen oder gar „irgendwie Mitleid zu erregen“. Vermutlich ahnte sie Schreckliches.

Kurz vor der bevorstehenden Deportation kaufte Marie Huntemann im Kolonialwarengeschäft Matheus eine Flasche Korn. Frühmorgens am nächsten Tag ging sie hinunter an die Weser. Dort befand sich gleich neben dem Tor des Bremer Vulkan ein kleiner Fähranleger. Hier fanden die ersten Fährgäste später ihre Handtasche, die Schuhe und eine leere Flasche Korn. Marie Huntemann hatte keinen anderen Ausweg mehr gesehen als die Flucht in den Tod. Ihre Leiche wurde am 25.7.1942 aufgefunden.

Die Gestapo verdächtigte zunächst die Söhne, ihre Mutter vor der drohenden Deportation versteckt zu haben, sie durchsuchte mehrfach ihre Häuser und drohte mit Konzentrationslager. Als ihre Leiche schließlich gefunden wurde, durfte sie nicht neben ihrem Mann auf dem Alt-Aumunder Friedhof beerdigt werden, sondern man begrub sie auf dem jüdischen Friedhof in Hastedt. Eine Todesanzeige wurde verboten, die Familie durfte ihren Namen nicht mehr erwähnen.

Nachzutragen ist, dass Ernst Huntemann Ende 1944 verhaftet und zunächst in das Arbeitslager Farge, später in ein Arbeitslager am Harzrand verbracht wurde. Auch Moritz Jakobsohn wurde Anfang 1945 verhaftet und in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Beide überlebten, sie wurden am Ende des Krieges von den alliierten Streitkräften befreit und kehrten nach Fähr-Lobbendorf zurück.

Die Familie Jakobsohn schwor sich, zeitlebens über diese schreckliche Zeit zu schweigen. Zu tief saßen die erlittenen Demütigungen und Verletzungen. Zu groß war die Angst, noch einmal auf ihre jüdischen Wurzeln hin angesprochen, diskriminiert oder gar verfolgt zu werden, zumal die Täter und ihre Mitläufer weiterhin lebten.

Ingbert Lindemann (2013)

Informationsquellen:
StA Bremen 4, 89/3-7
Lindemann, Ingbert: „Die H. ist Jüdin!“: aus dem Leben von Aumunder Juden nach 1933, Bremen 2009
Auskünfte der Familie
Zeitzeugenberichte aus der evang.-Luth. Christophorus-Gemeinde Aumund/Fähr

Abbildungsnachweis: Ingbert Lindemann

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Rassengesetzgebung
Glossarbeitrag Christen jüdischer Herkunft