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Nathan Felczer, *1894

deportiert 1941
ermordet in Minsk


Stephanstr. 2
Bremen-Walle
ehemalige Straßenbezeichnung: Stephanstr. 49

Nathan Felczer


Nathan Felczer wurde am 12.10.1894 in Bremen geboren. Seine Eltern waren Saul David Felczer (geb. 1859 in Chrzanow, heute Polen) und Rosalie Rachela Richter (geb. 1869 in Plaza, heute Polen). Sie hatten ein weiteres Kind: Ernestine (geb. 1896 in Bremen). Nathan Felczer heiratete 1927 die Protestantin Elsa Schellin (geb. 1900 in Bremen). Ihre gemeinsame Tochter Julia wurde 1928 geboren. Die Familie bewohnte von 1928 bis 1932 eine Fünf-Zimmer-Wohnung in der Hutfilterstraße 24/26 und hatte dafür 200 RM Miete zu zahlen. Das Ehepaar war finanziell so gut gestellt, dass es eine Haushaltshilfe und nach der Geburt der Tochter eine Säuglingspflegerin einstellen konnte. 1933 trennte sich das Paar, die Tochter blieb bei der Mutter. Die Ehe wurde 1939 geschieden.

Nathan Felczer nahm vermutlich ab 1917 als Soldat am Ersten Weltkrieg teil. Er kehrte 1919 vom Militär aus Graz nach Bremen zurück und gründete 1924 einen Metall-, Eisenund Rohproduktengroßhandel mit Geschäftssitz in der Rembertistraße 32. Nach dem Tod seines Vaters David 1934 übernahm er dessen branchengleiches Geschäft in der Stephanstraße 49 (heute Stephanstraße 2) und führte die beiden Firmen 1936 zusammen. Gleichzeitig zog er zu seiner dort wohnenden Mutter. Sie starb am 19.9.1938. Das elterliche Haus und Grundstück in der Stephanstraße erbten er und seine Schwester Ernestine, verheiratete Rosenblum. Vermutlich infolge zurückgehender Umsätze meldete er 1937 noch eine Warenvertretung und einen Kohlenhandel an.

In der Reichspogromnacht 9./10.11.938 wurde Nathan Felczer verhaftet und mehrere Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Seine geschiedene Ehefrau berichtete, dass er mit erfrorenen Gliedern und Erfrierungen im Gesicht aus dem Lager zurückkam. Sein Schwager Heinrich Rosenblum war in der Reichspogromnacht von SA-Männern erschossen worden.

Seine Geschäftstätigkeit durfte Nathan Felczer nach der Rückkehr aus dem KZ nicht wieder aufnehmen. Seine Firmen galten ab dem 30.12.1938 als abgemeldet. Danach wurde er zu Zwangsarbeiten herangezogen. Er arbeitete u.a. bei der Rohproduktenfirma Willy Rothe, Pastorenweg, und in der Westerstraße. Seinen Lebensunterhalt bestritt er zusätzlich von seinem Vermögen, das auf einem Sperrkonto lag. Monatlich wurden ihm hiervon 250 RM ausgezahlt. Bis zu seiner Deportation zahlte er regelmäßig Unterhalt an seine Tochter und hielt den Kontakt zu ihr und ihrer Mutter aufrecht. Am 15.2.1939 wurden Haus und Grundstück Stephanstraße 49 zugunsten des Deutschen Reichs „arisiert“. Die Finanzbehörde verkaufte das Anwesen an den Schlachter Könnecke. Danach zog Nathan Felczer zu seiner Schwester in die Thedinghauser Straße 46. Seiner geschiedenen Ehefrau konnte er kurz vor der Deportation noch einen Betrag zwischen 600 und 800 RM aushändigen.

Am 18.11.1941 wurde Nathan Felczer mit 443 Personen aus Bremen in das Ghetto Minsk deportiert. Ihm sind die einzigen bekannten Lebenszeichen vom Transport nach Minsk zu verdanken. Seine Tochter Julia erhielt drei Postkarten von ihm.

Die erste ist vom 19.11.1941 und wurde in Berlin, Kreuz/Ostbahn abgestempelt.

"Liebe Julia!
Sind gestern Mittag 1/2 12 abgefahren u. sind jetzt 1/2 9 morgens in Stargard i./Pommern. Bis jetzt alles gut. Stimmung vorzüglich. Der Zug ist brechend voll. Heute Nacht wurden 2 Kinder geboren, allerdings von den Hamburgern. Ich werde nochmals von deutschem Boden schreiben. Viele Grüße an Mutti u. Tante Selma. Dein Papa."

Die zweite Postkarte wurde am 22.11.1941 in Warschau abgestempelt.

"Warschau 20.11.
Liebe Julia!
Sind jetzt in Polen u. habe zufällig Gelegenheit, einige Zeilen zu schreiben. Es geht soweit ganz gut, ist natürlich alles anstrengend, aber unser Vertrauen ist groß. Bis jetzt ist es noch nicht kalt. Es geht tatsächlich nach Minsk, es ist dort augenblicklich eine Kälte von 25°. Die Karte ist so schmutzig, weil ich im Augenblick hinter der Lokomotive sitze. Die Briefe an die Geheime Staatspolizei hatte ich bei mir und habe sie abgeschickt. Ihr müßt euch selbst auch darum bekümmern. Wir haben von Warschau immer noch ca. 1000 Km [gestr.] Kilometer. Sobald ich von Minsk Gelegenheit habe, schreibe ich.

Vorderseite:
Bleibt alle recht gesund. Hoffentlich sehen wir uns alle mal wieder. Herzliche Grüße an Mutti, Tante Selma von Tine u. Kindern. Dein Papa."

Die dritte Postkarte wurde am 15.12.1941 (ohne Ortsangabe) abgestempelt.

"Liebe Julia!
Es ist Freitagmorgen 10 Uhr und sind schon tief in Rußland 150 km vor Minsk. Kälte ist nicht schlimm. Stimmung gut. Wie lange die Fahrt noch dauert, ist unbestimmt. Hoffentlich bekommt ihr diese Karte. Die Station, von der ich jetzt schreibe heißt Baronowitschi. Weiter alles Gute. Herzliche Grüße an Alle. Papa."

Der weitere Lebensweg von Nathan Felczer ist nicht bekannt. Sofern er nicht den unmenschlichen Lebensbedingungen im Ghetto erlag, fiel er einer der Massenmordaktionen zum Opfer, die Ende Juli 1942 begannen. Mit ihm wurden seine Schwester Ernestine Rosenblum und deren Töchter nach Minsk deportiert und ermordet.

Der Leiter der Rückerstattungsbehörde beim Landesamt für Wiedergutmachung beschrieb das Schicksal Nathan Felczers 1963 mit folgenden Worten: „Herr Felczer wurde bekanntlich aus rassischen Gründen nach Minsk verschickt und ist aus dem Osten nicht zurückgekehrt.“

Tochter Julia, die als „Halbjüdin“ zu jenem Zeitpunkt noch vor einer Deportation geschützt war, brachte sich zwischen 1942 und 1945 bei einer Tante in Schlesien unter dem Nachnamen ihrer Mutter in Sicherheit. Sie wanderte 1955 in die USA aus.

Peter Christoffersen (2019)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E2007, 4,54-Rü5880, 4,75/5-940, Einwohnermeldekartei
Es geht tatsächlich nach Minsk. Texte und Materialien zur Erinnerung an die Deportation von Bremer Juden am
18.11.1941 in das Vernichtungslager Minsk. Zusammengestellt von Andreas Röpke, Günther Rohdenburg, Kleine Schriften
des Staatsarchivs Bremen, Heft 21, Bremen 2001 (2)

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Novemberpogrom
Glossarbeitrag Minsk