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Charlotte Weiss, geb. Rosenblum, *1894

FLUCHT 1940 BELGIEN, VERHAFTET 1942 MARSEILLE
versteckt überlebt


Große Johannisstraße 72
Bremen-Neustadt

Verlegedatum: 28.09.2012


Große Johannisstraße 72 - Weitere Stolpersteine:


Charlotte Weiss

Charlotte Weiss

Familienbiografie
Israel Weiss
Charlotte Weiss, geb. Rosenblum

Israel Aron Weiss kam als Sohn von Juda Weiss und seiner Ehefrau Feige, geb. Mohr, am 9.1.1890 in Lachowice (heute Belarus) zur Welt. Er lebte ab April 1913 in Bremen. Am 21.9.1916 heiratete er in Bremen Charlotte Rosenblum, Tochter von Bernhard Rosenblum und seiner Ehefrau Antonette, geb. Schudmak, geboren am 1.5.1894 in Chrzanów/ Galizien. Ihre ursprünglichen Vornamen waren Scheindel und Beile. Sie hatte sechs Geschwister: Heinrich (geb. 1892), Salomon (geb. 1896), David (geb. 1901), Paula (geb. 1903), Neti (geb. 1905) und Auguste (Geburtsdatum nicht bekannt). Sie war aus Wilna zugezogen. Die Ehe von Israel und Charlotte Weiss blieb kinderlos. Das Ehepaar lebte ab 1916 als Hauseigentümer in der Großen Johannisstraße 72, bis sie im März 1939 zu ihren Verwandten in die Hermannstraße 101 umziehen mussten.

Israel Weiss besaß seit 1916 die Erlaubnis zum Handel mit alten Säcken, Lumpen, Knochen und Vieh. Weiter handelte er mit gebrauchten Kraftfahrzeugen und Ersatzteilen. Seine Betriebsstätte befand sich in der Neuenlander Straße/Ecke Meterstraße. Charlotte Weiss war im Betrieb als Buchhalterin beschäftigt. Seine Viehhandlung musste er im November 1936 und das übrige Gewerbe im Dezember 1938 abmelden. Er muss erfolgreich gewirtschaftet haben, denn nach dem vorliegenden Bescheid über die Judenvermögensabgabe vom 12.12.38 hatte er 7.200 RM zu entrichten. Die Berechnungsgrundlage dafür war ein angemeldetes Vermögen von 36.000 RM.

Am 25.1.1923 erhielt Israel Weiss einen Strafbefehl über eine Geldstrafe in Höhe von 5.000 RM, ersatz-weise je 150 RM zu einem Tag Gefängnis. Er hatte einen Verstoß nach der Verordnung vom 13.1.1919 begangen. Darin war geregelt, dass innerhalb von drei Tagen alle Schusswaffen und Munition abzuliefern waren (Rückgabe von Kriegswaffen). In seiner Ausländerakte – er galt als staatenlos – war auch notiert, dass er 1936 einen Strafbefehl über 15 RM wegen Verstoßes gegen das Kraftfahrzeuggesetz erhalten hatte.

In der Reichspogromnacht wurde er verhaftet und war vom 11.11. bis zum 17.12.1938 im KZ Sachsenhausen interniert. Nach Erinnerung des zweiten Ehemannes von Charlotte Weiss, Walter Ginsberg, soll ihre Wohnung in der Großen Johannisstraße im Zuge der Reichspogromnacht demoliert worden sein.
Nach seiner Entlassung aus dem KZ war er bemüht, eine Emigration weiter zu verfolgen. Bereits am 9.11.1938 hatte sich das Ehepaar ein Angebot von der Speditionsfirma Neukirch über einen Lift zwecks Auswanderung in die USA geben lassen. Der Preis sollte für fünf Kubikmeter bei 1.600 RM liegen. Am 1.3.1939 waren von Israel Weiss 2.000 RM für Umzugsgut an die Deutsche Golddiskontbank Berlin (Dego-Abgabe) überwiesen worden. Am 13.6.1939 wurde die Zahlung der Seefracht vom Norddeutschen Lloyd quittiert. Das Umzugsgut erreichte den Empfänger in den USA – seinen Schwager David Rosenblum – nicht. Am 20.12.1938 verkauften sie zwangsweise ihr Anwesen in der Großen Johannisstraße.

Nachdem vermutlich immer noch kein Visum für die USA vorgelegen hatte, emigrierte Israel Weiss am 16.4.1939 nach Brüssel, wohin ihm am 1.3.1940 seine Frau folgte. Von dort floh das Ehepaar dann nach Frankreich, vermutlich kurz vor oder nach der Besetzung Brüssels durch die Wehrmacht am 17.5.1940. Danach verliert sich zunächst ihre Spur. Am 26.8.1942 wurde das Ehepaar in Marseille verhaftet. An diesem Tag fand die erste Großrazzia gegen Juden in der„Zone Libre“ statt. Es wurden über 10.000 nichtfranzösische Juden deportiert.

Israel Weiss wurde vermutlich in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert (Datum ist nicht bekannt). Im Zwangsarbeiterlager Blechhammer, das von der Wehrmacht verwaltet wurde, erhielt er vom KZ Auschwitz die Häftlingsnummer 179238, die um den 1.4.1944 ausgegeben wurde. Zu diesem Lagerkomplex gehörte auch ein Konzentrationslager für Juden. Insgesamt waren in Blechhammer etwa 48.000 Zwangsarbeiter interniert gewesen. Am 21.1.1945 begann die SS mit der Räumung des Lagers. Die Überlebenden erreichten am 2.2.1945 nach einem Todesmarsch das KZ Groß-Rosen. Von dort wurden die Juden in Viehwaggons in das KZ Buchenwald gebracht. Israel Weiss erreichte Buchenwald lebend und erhielt dort am 10.2.1945 noch die Häftlingsnummer 125509. Er verstarb im KZ am 19.2.1945. Sofern die Todesbescheinigung korrekt ist, starb er an einer beiderseitigen Lungenentzündung.

Von Charlotte Weiss ist das Original der „Carte de Victime de la Répression Nazie“ vom 14.8.1945 aus Marseille erhalten geblieben. Danach unternahm sie nach ihrer Verhaftung in Marseille einen Selbst-mordversuch. Sie schnitt sich die Pulsadern auf und wurde daraufhin in das Hospital Boulevard de Louvain eingeliefert. Nach ihrer gesundheitlichen Wiederherstellung sollte sie in das Polizeikommissariat von Marseille (L‘ Evéché) zum Verhör gebracht werden. Es gelang ihr, während des Transports zu entkommen. Sie flüchtete zunächst nach Nizza und anschließend nach Italien. Nach der Rückeroberung Frankreichs (ab Herbst 1944) wurde sie in Frankreich von der französischen Armee befreit.

Charlotte Weiss wanderte 1947 nach Australien aus und heiratete dort ihren verwitweten Schwager Walter Ginsberg (siehe Biografie in diesem Band). Dessen Ehefrau Neti, Schwester von Charlotte, war mit ihrer dreijährigen Tochter in das Ghetto Minsk deportiert und ermordet worden. Charlotte Ginsberg starb am 7.2.1954 in St. Kild/Australien.

Charlottes Bruder Heinrich Rosenblum war eines der Opfer des Novemberpogroms in Bremen (siehe Biografie in diesem Band). Der Lebensweg seiner Ehefrau Ernestine und seiner Töchter Toni und Irmgard endete ebenfalls in Minsk. Ihre anderen Geschwister konnten sich in den USA in Sicherheit bringen.

Peter Christoffersen (2020)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E11198, 4,54-E10055, Einwohnermeldekartei

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag Novemberpogrom
Glossarbeitrag Sachsenhausen
Glossarbeitrag Auswanderung
Glossarbeitrag Drancy