Sie befinden sich hier | Kapitelüberschrift  Glossar
Schriftgroesse verkleinern Schriftgroesse normal Schriftgroesse vergrössern
Diese Seite ausdrucken

Glossar

"Euthanasie" / Zwangssterilisation

Schon früh waren Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen während der NS-Zeit Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt. Auf der Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden zwischen Januar 1934 und Kriegsende etwa 350.000 Frauen und Männer von Erbgesundheitsgerichten als „erbkrank“ verurteilt und zwangsweise unfruchtbar gemacht, ca. 5.000 von ihnen starben an den Folgen der Operationen. Auch in Bremen beteiligten sich Ärzte mit Eifer an der Durchführung des Gesetzes. 1944 lag die Zahl der Sterilisationsverfahren in der Hansestadt bei 2.665, mindestens 19 Frauen und Männer bezahlten den Eingriff mit ihrem Leben. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1.9.1939 begann schließlich auch der innere Krieg gegen die Menschen, die dem Rassenideal der Nationalsozialisten nicht entsprachen. Ihre Ermordung hatte Adolf Hitler im Oktober 1939 mit einem auf den 1. September zurückdatierten und auf seinem privaten Briefpapier verfassten Schreiben freigegeben. In der Folgezeit starben bis Kriegsende weit mehr als 200.000 psychisch kranke, sozial auffällige und geistig behinderte Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder eines gewaltsamen Todes in den Gaskammern der „Heilanstalten“, durch Injektionen, durch Überdosierung von Medikamenten oder durch Nahrungsentzug.

Hintergrund dieser Verbrechen waren die seit Jahrzehnten öffentlich und wissenschaftlich geführten Diskussionen über die Förderung der „Erbgesunden“ und die Beseitigung der als vermeintlich „erbkrank“ und „lebensunwert“ diffamierten Menschen. Durch die Nationalsozialisten wurden diese „rassenhygienischen“ Vorstellungen in die Tat umgesetzt, und der Massenmord unter der verharmlosenden und irreführenden Bezeichnung „Euthanasie“ (schöner Tod) vollzogen.

Die Morde wurden systematisch geplant und im Rahmen unterschiedlicher Mordaktionen ausgeführt. So starben in eigens eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ zwischen 1939 und 1945 etwa 5.000 Kinder eines gewaltsamen Todes.

Während der sogenannten „Aktion T 4“ – benannt nach dem Sitz der Organisationszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 – starben in den Gaskammern der sechs zu Tötungsanstalten umfunktionierten „Heil- und Pflegeanstalten“ in Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna, Bernburg und Hadamar zwischen Januar 1940 und August 1941 ca. 70.000 Menschen. Der Stopp der Gasmorde im Sommer 1941 bedeutete allerdings nicht das Ende der Mordaktion, sondern nur einen Wechsel in der Verantwortlichkeit und der Tötungsmethode. Nun wurde nicht mehr zentral von Berlin aus organisiert, sondern auf Länder- und Provinzialverwaltungsebene. Auch die Tötungsart änderte sich. Es wurde nicht weiter durch Giftgas, sondern durch Injektionen, durch Überdosierung von Beruhigungsmitteln und Nahrungsentzug getötet.

Seit Sommer 2016 nennt das Erinnerungsbuch für die Opfer der NS-Medizinverbrechen die Namen von 822 Kindern, Jugendlichen Frauen und Männern aus Bremen und Bremerhaven und erinnert damit an die Frauen und Männer, die 1940 und 1941 im Rahmen der „Aktion T4“ in den Gaskammern der Anstalten Hadamar, Pirna-Sonnenstein und Brandenburg starben sowie an die Kinder, Jugendlichen, Frauen und Männer, die in den "Heil- und Pflegeanstalten" Meseritz-Obrawalde, Hadamar, Uchtspringe, Wehnen, Pfafferode, Erlangen, Kutzenberg, dem Gertrudenheim und in der Bremer Nervenklinik infolge von Medikamentenüberdosierungen oder -entzug, durch Nahrungsentzug, pflegerische oder medizinische Vernachlässigung starben.

Zu der letzten Gruppe gehörten viele alte Menschen, die nach Umwandlung von Altenheimen in Reservelazarette in der Nervenklinik gestrandet waren oder wegen ihrer Hilfsbedürftigkeit bei fortschreitender Kriegsdauer nicht länger allein oder in den Familien leben konnten; ebenfalls Kinder, Jugendlichen, Frauen und Männer mit geistiger Behinderung, die man nach Auflösung von Behinderteneinrichtungen in Bremen (Haus Reddersen 1939) und dem niedersächsischen Umland (Gertrudenheim Blankenburg bei Oldenburg und Rotenburger Anstalten 1941), einer seelenlosen Verfügungsmasse gleich, von einer Einrichtung in die andere verbrachte. Für viele von ihnen endete diese Odyssee mit dem erzwungenen oder in Kauf genommenen Tod.


Quellen / Weitere Informationen:
Engelbracht, Gerda, Das Haus Reddersen. Zur Geschichte der ersten bremischen Pflege- und Erziehungsanstalt für geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche. Bremen 1995.

dies., Der tödliche Schatten der Psychiatrie. Die Bremer Nervenklinik 1933-1945, Bremen 1997.

dies., Von der Nervenklinik zum Zentralkrankenhaus Bremen-Ost. Bremer Psychiatriegeschichte 1945-1977, Bremen 2004.

dies., Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 2014.

dies., Erinnerungsbuch für die Opfer der NS-Medizinverbrechen in Bremen. Bremen 2016.

dies., Barbara Johr, Mechthild Thülig, Achim Tischer. Museum, Mahnmal und Stolpersteine als Erinnerungsorte für Bremer „Euthanasie“-Opfer. In: Raimond Reiter (Hg.), Opfer der NS-Psychiatrie. Gedenken in Niedersachsen und Bremen, Marburg 2007, S. 179-203.

Marßolek, Inge / René Ott, Bremen im Dritten Reich. Anpassung – Widerstand – Verfolgung, Bremen 1986.

Nitschke, Asmus. Die „Erbpolizei“ im Nationalsozialismus. Zur Alltagsgeschichte der Gesundheitsämter im Dritten Reich, Opladen/Wiesbaden 1999.

Schmacke, Norbert, Hans-Georg Güse, Zwangssterilisiert – Verleugnet – Vergessen. Zur Geschichte der nationalsozialistischen Rassenhygiene am Beispiel Bremens, Bremen 1984.

Tischer, Achim (Hg.), Brauchen wir ein Mahnmal? Zur Erinnerung an die Psychiatrie im Nationalsozialismus in Bremen, Bremen 2000

Siehe auch Glossarbeitrag "Heilanstalten" http://www.stolpersteine-bremen.de/glossar.php?id=39


Gerda Engelbracht (2016)


Zurück