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Heinrich Bialystock, *1891

Flucht 1938 nach Belgien interniert im Lager Malines/deportiert 1.9.1942
ermordet in Auschwitz


Am Brill 14
Bremen-Mitte


Am Brill 14 - Weitere Stolpersteine:


Heinrich Bialystock

Heinrich Bialystock
geb. 19.7.1891 in Wyszkow

Heinrich (Chaim) Bialystock war das zweitälteste von sieben Kindern des Textilkaufmanns Mendel Bialystock und dessen Ehefrau Malka, geb. Kahan. 1922 heiratete er Franja Bloch (geb. 1901 in Czenstochau). Der Sohn Moshe Martin wurde am 18.8.1923 in Hannover geboren, die Tochter Miriam am 15.1.1929 in Bremen.

Am 29.1.1932 erhielt Heinrich Bialystock die deutsche Staatsangehörigkeit, nachdem ein Polizeibericht von 1930 ihn wie folgt charakterisiert hatte:

„Jude, stammt aus dem Osten; besuchte Volksschule in Grajewo, wo Russisch Unterrichtssprache war. Nachmittags Privatunterricht in Deutsch, Rechnen, Schreiben. Zu Hause nur Deutsch gesprochen. Begeisterung für deutsche Literatur. Ehefrau auch aus dem Osten (Russisch-Polen); besuchte in Hannover Schulen (Lyzeum), wurde deutsch erzogen. B. hat in Hannover, Kiel und Bremen an Handels- u. Fortbildungskursen teilgenommen. B. machte eine Lehre bei den Eltern in Grajewo, dann in Hannover (1908-1911): Herrenkonfektionsbranche. In Hannover selbständiger Einkäufer von Partieware (bis 1912). Anschließend beim Vater in Kiel tätig (bis 1914).
Umzug nach Bremen und Eröffnung eines Geschäfts in der Nordstraße 48 (Partiewaren; Trödler). 1920 Eröffnung eines Herrenkonfektionsgeschäft in der Straße Doventor 13. 2.2.1926 Verlegung des Geschäfts nach Am Brill 14 (Eigentum des B.); Firmenname: „Adler“; gutgehendes Geschäft, einwandfreie Geschäftsführung. Frau B. hilft im Geschäft, 2 Verkäuferinnen und 1 junger Mann. Familie wohnt über dem Laden in 4-Zi-Wohnung. Kundschaft: Arbeiter- u. Mittelstand. ... Ordentlicher Lebenswandel, fleißig, strebsam, solide.“

Der Wert des Hauses Am Brill 14, das sich in zentraler Lage neben dem Kaufhaus der Fa. C&A Brenninkmeyer befand, wurde zu dieser Zeit auf 95.000 RM geschätzt.

Unter dem NS-Regime wurde die Einbürgerung am 27.2.1934 widerrufen. Damit waren Heinrich Bialystock, seine Frau und seine Kinder „staatenlose Ausländer“.

Moshe Martin Bialystock hat später berichtet, wie er als Schüler Diskriminierung und Schikane erlebt hat: An jedem Kiosk war der „Stürmer“ mit judenfeindlichen Karikaturen und Texten zu sehen. In der Doventor-Realschule litt er unter Lehrern und Schülern: Er musste z.B. den Hitlergruß erwidern, mit dem die Lehrer den Klassenraum betraten. Am Buurman Institut, einer anschließend besuchten Privatschule, durfte er als Jude nicht mehr in der Fußballmannschaft spielen. 1936 schickten ihn seine Eltern auf eine jüdische Realschule in Frankfurt am Main, da er in Bremen als Jude keine allgemeinbildende Schule mehr besuchen durfte. Auch in Frankfurt zog häufig die SA grölend durch die Straßen und sang antisemitische Hetzlieder, vor allem das Horst-Wessel-Lied.

Heinrich Bialystock wurde 1936 vom Hanseatischen Sondergericht wegen „unerlaubten Verkaufs von parteiamtlichen Uniformen“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, weil sich in seinem Sortiment zwei kurze schwarze Hosen befunden hatten, die das Gericht als Teil der „offiziellen Uniform“ der Hitlerjugend ansah. Nach Verbüßung der Gefängnisstrafe wurde er als Vorbestrafter in „Schutzhaft“ genommen, aus der er im Juni 1938 auf Betreiben seiner Frau unter der Bedingung freigelassen wurde, Deutschland innerhalb von 48 Stunden zu verlassen. Am 24.6.1938 reiste Heinrich Bialystock in die Niederlande aus, wo bereits seine Eltern und einige seiner Geschwister lebten. Franja blieb zunächst mit den Kindern in Bremen zurück, um das Haus zu verkaufen und das Geschäft abzuwickeln. Heinrich Bialystock musste die Niederlande nach Ablauf seines Besuchervisums wieder verlassen und hielt sich von da an in Belgien auf.

Franja Bialystock erhielt die Erlaubnis für einen Ausverkauf. Da in den drei Schaufenstern große gelbe Plakate mit der Aufschrift „Jüdisches Geschäft“ gut sichtbar angebracht werden mussten, blieb jedoch die Kundschaft aus, und der Warenbestand im Wert von 57.000 RM verringerte sich nicht mehr.

Der Vertrag über den Verkauf des Hauses durch Franja Bialystock kam bereits Anfang September 1938 zustande. Näheres über diesen Kauf kann man aus dem im Mai 2011 zum 100-jährigen Bestehen des Unternehmens C&A Brenninkmeyer erschienenen Ausstellungskatalog „C&A zieht an!“ erfahren, der, worauf das Vorwort hinweist, auch „erste Zwischenergebnisse“ zu der „Frage nach der Rolle des Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus“ enthält. Der Katalog stellt fest, dass das Unternehmen „erheblich von der Verdrängung der Juden aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben“ profitiert habe. Der Erwerb des Wohn- und Geschäftshauses Am Brill 14 in Bremen wird als „besonders drastisches Beispiel“ für das Vorgehen von C&A angeführt. Das Unternehmen habe „keinen einigermaßen angemessenen Kaufpreis“ gezahlt, während der Verkaufsverhandlungen die Zusammenarbeit mit dem von Franja Bialystock engagierten Makler Adolf Herz wegen dessen „nichtarischer Abstammung“ abgebrochen und „dem Wunsch von Frau Bialystock, bis zur Genehmigung ihrer geplanten Ausreise mietfrei in ihrer alten Wohnung bleiben zu dürfen, ... ebensowenig entsprochen wie der Verlängerung ihres Mietvertrages, als sich ihre Ausreise verzögert“.

In der „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10.11.1938 schlugen SA-Männer die Schaufensterscheiben ein, plünderten und verwüsteten den Laden. Franja Bialystock und die Kinder flüchteten am nächsten Morgen zu einer befreundeten Familie. Am Abend zwang die Polizei Franja, das Geschäft auf eigene Kosten mit Brettern vernageln zu lassen. Bis zur Behebung des entstandenen Schadens, hielt das Unternehmen C&A Brenninkmeyer als Erwerber einen Teil der Kaufpreissumme zurück.

Einige Tage nach der Pogromnacht mussten der fünfzehnjährige Moshe Martin Bialystock und ein weiterer Junge auf dem Jüdischen Friedhof in Hastedt die in der Pogromnacht in Bremen ermordeten Heinrich Rosenblum und Selma Zwienicki begraben, während die jüdischen Frauen einen großen Kreis um sie bildeten. Die erwachsenen jüdischen Männer waren zu diesem Zeitpunkt im KZ Sachsenhausen inhaftiert.

Ende 1938 flüchteten Moshe Martin und Miriam Bialystock in die Niederlande. Von der Mutter in die Nähe der Grenze gebracht, mussten sie – ohne Gepäck, Geld und Papiere – eine Stunde lang allein durch die Felder laufen, bis sie an ein jenseits der Grenze gelegenes Haus kamen, in dessen Nähe eine Tante auf sie wartete. In Den Haag wollte die Fremdenpolizei sie nach Deutschland zurückschicken, was durch die Intervention der Jüdischen Gemeinde verhindert wurde.

Am 9.2.1939 überwies Franja Bialystock 40.000 RM über die Deutsche Golddiskontbank in Berlin nach Antwerpen; die Bank berechnete auf den Transfer ein Disagio von 94%, so dass Heinrich Bialystock nur 2.400 RM erhielt. Die Firma Adler erlosch am 11.2.1939. Am 28.2.1939 verliess Franja Bialystock Bremen und begab sich illegal zu ihrem Mann nach Antwerpen. Die Tochter Miriam wurde aus Den Haag über die Grenze geschleust und stieß zu den Eltern.

Moshe Martin Bialystock blieb in den Niederlanden und schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Er schloss sich der jüdischen Jugendbewegung an und trat mit der Jugend-Alijah in Verbindung, die für die Auswanderung junger Juden nach Palästina warb. Heinrich und Franja Bialystock hatten seit längerem geplant, mit den Kindern in die USA auzuwandern. Sie hatten bereits für die Familie die erforderlichen Bürgschaften (Affidavits) beschafft; da jedoch die Quote für amerikanische Visa beschränkt war, mussten sie noch unbestimmte Zeit warten. Franja Bialystock hatte bereits von Bremen aus die Möbel und weitere Einrichtungsgegenstände mit einem Lift zu einem in Ohio lebenden Verwandten verschickt. Mit dem Entschluss ihres Sohnes, nach Palästina auszuwandern, waren sie nicht einverstanden. Als er sich endgültig entschieden hatte, teilte er im März 1940 den Eltern mit, wann der Zug, mit dem er nach Marseille fuhr, in Antwerpen hielt. Eltern und Schwester waren am Bahnhof, und die Eltern begleiteten ihn im Zug bis Brüssel; keiner war in der Lage, ein Wort zu sprechen. In Brüssel übergab ihm die Mutter einen Koffer und persönliche Briefe, die sie und der Vater an den Sohn geschrieben hatten.

Heinrich, Franja und Miriam Bialystock hielten sich in Antwerpen zuletzt unter der Adresse Van Leriusstraat 43 auf. Dort wurden sie von der Gestapo verhaftet und in das Sammel- und Durchgangslager Malines/Mechelen gebracht. Am 1.9.1942 wurden sie von dort mit dem Transport VII unter Bewachung der SS nach Auschwitz-Birkenau deportiert und nach der Ankunft ermordet.

Moshe Martin Bialystock gelangte mit der Jugend-Alijah über Marseille und Beirut nach Palästina. In der Hoffnung, seinen Angehörigen helfen zu können, schloss er sich dort als Freiwilliger den britischen Truppen an, kämpfte in Nordafrika (El Alamein und Tobruk), und in Italien (bei der Landung in Salerno und – nach dem Anschluss der britischen Regimenter an die 5. U.S.-Armee – in Monte Cassino).

Am 9.11.2009 sprach er am Mahnmal für die Bremer Opfer der Reichspogromnacht und war Ehrengast bei der Nacht der Jugend im Bremer Rathaus. Er lebt heute – 88 Jahre alt – mit seiner Frau Rachel in der Nähe von Tel Aviv; sie haben zwei Töchter, sechs Enkel und neun Urenkel.

Verfasser: Michael Cochu (2011)

Informationsquellen:
Staatsarchiv Bremen, Akten 4,54-E4763; 4,54-E10486; 4,54-E12058
„Jodenregister“ der Stadt Antwerpen
Yad Vashem: The Central Database of Shoah Victims’ Names
Martin Bialystock: Bericht, in: Inge Marßolek u. Wiebke Davids (Hrsg.), „Man hängt immer zwischen Himmel und Erde ...“. Jüdische Emigrantinnen und Emigranten (1933-45) aus Bremen berichten, Bremen 1997, S.53-66
Draiflessen Collection (Hrsg.), C&A zieht an! Impressionen einer 100-jährigen Unternehmensgeschichte. Ausstellungskatalog (2011), Vorwort u. S.101-103

Abbildungsnachweis: Privatbesitz

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Schutzhaft"
Glossarbeitrag Novemberpogrom
Glossarbeitrag "Arisierung"
Glossarbeitrag Auswanderung
Glossarbeitrag Malines / Mechelen
Glossarbeitrag Auschwitz