Sie befinden sich hier | Kapitelüberschrift  Stolpersteine Biografie
Schriftgroesse verkleinern Schriftgroesse normal Schriftgroesse vergrössern
Diese Seite ausdrucken

Hermann Jelken, *1907

eingewiesen 9.12.1943 in die "Heilanstalt" Meseritz
ermordet 26.2.1944


Am Staatsarchiv/im Zugang vom Rembertiring
Bremen-Mitte
ehemalige Straßenbezeichnung: Wilhelmstr. 27

Hermann Jelken


Hermann Jelken wurde am 14. 4. 1907 als sechstes von sieben Geschwistern in Loga bei Leer geboren. Ein Gedicht, das der 25-Jährige im Mai 1932 schrieb und als Abschrift in seiner Krankenakte überliefert ist, ermöglicht einen Blick in die Gefühls- und Gedankenwelt eines arbeitslosen Arbeiters während der Weltwirtschaftskrise:

„Bin jetzt drei Jahre arbeitslos weiß weder aus noch ein, denk immer an das große Los s’kommt doch nimmer rein. Ich schreibe schreibe Tag für Tag und warte ab was kommen mag Wir Proleten warten alle bis sie kommen die Krawalle Dann werden wir den Bonzen zeigen, was gespielt wird in den Reihen Drei Jahre ist ne lange Zeit, doch einmal werden wir befreit von den Unterdrückern der Welt, dann machen wir’s wies uns gefällt

Prolet erwach, Prolet gib acht, bald kommt der Tag und auch der Krach

Drum auf Proleten, reiht euch ein in die Klassen der roten Reihen Einmal führen für [wir?] zum Siege, und dann gibt es auch Betriebe wo wir schaffen und verdienen unser Recht und noch mehr kriegen unser Brot und auch die Freiheit jetzt heißt es auf, jetzt ist noch Zeit.

Wie lange sollen wir noch leiden - wir Arbeitslosen jung und alt? Wie lange noch - soll es so bleiben ohne Lohn und ohne Gehalt? Alle Werktätigen, heraus zum Kampf, gegen Lohnraub Hunger und Not. Denn dieses System das ist doch Krampf, drum seid gescheit und wählet Rot.

Hermann Jelken“

Nur wenige Wochen nachdem der 25jährige dieses Gedicht verfasst hatte, brachte ihn ein Bruder zum ersten Mal in die Bremer Nervenklinik. Dieser berichtete, dass Jelken „nachts seinen Neffen aus dem Fenster werfen und selber nachspringen“ wollte und zudem behauptet habe, „sein verstorbener Vater spiele im Radio Geige“.

Wenige Tage darauf wurde der Patient als „gebessert“ aus der Klinik entlassen, aber im darauffolgenden Jahr aus ähnlichen Gründen erneut aufgenommen. Nach Angaben der Angehörigen sei der junge Mann nach seiner Entlassung „aus der Anstalt immer sehr still und grüblerisch“ gewesen und habe „überhaupt einen sonderbaren und etwas unheimlichen Eindruck“ gemacht. Auf Grund der ärztlichen Diagnose „Schizophrenie“ wurde Jelken nun beim Erbgesundheitsgericht angezeigt, seine zwangsweise Unfruchtbarmachung beschlossen und im April 1934 im Großen Krankenhaus in der St. Jürgen Straße vollzogen. Auch in den folgenden Jahren überwies man Jelken wegen plötzlich auftretender Erregungszustände in die Bremer Nervenklinik, wo ihn die Ärzte mit Cardiazolschocks behandelten. Er war dort als Hausarbeiter oder in der Feldkolonne tätig. Im Sommer 1942 wurde der inzwischen 35-Jährige zusammen mit 125 anderen Patienten aus der Bremer Nervenklinik in die Landesheilanstalt Hadamar gebracht.

Die Hadamarer Anstalt zählte in der ersten Phase der NS-„Euthanasie“-Verbrechen zu den sechs Mordanstalten der sogenannten Aktion-T4. Mehr als 10.000 Menschen wurden in der Gaskammer der hessischen Anstalt zwischen Januar und August 1941 ermordet. Die zweite Mordphase begann in Hadamar mit der Ankunft der Bremer Patienten am 13. und 14. August 1942. In den Jahren bis Ende des Zweiten Weltkriegs starben in der Mordanstalt fast 4.500 weitere Menschen. „Wer nicht schnell genug der gezielt eingesetzten Hungerkost oder der vorenthaltenen medizinischen Versorgung erlag, wurde durch überdosierte Medikamente getötet.“ Überlebenschancen hatten allein die Arbeitsfähigen.

Zu diesen zählte auch Hermann Jelken, der fast ein Jahr in der Anstaltsküche arbeitete. „Leistet hier gute Arbeit. Ein neuer Entweichungsversuch ist nicht vorgekommen. Wird frei behandelt“, schrieb der Hadamarer Anstaltsleiter im Sommer 1943 in Jelkens Krankenakte. Offensichtlich hatte Jelken einen erfolglosen Fluchtversuch unternommen, den er kurz darauf, diesmal erfolgreich, wiederholte. Fast bedauernd notierte der Arzt, dass der „ordentliche und anstellige“ Mann am 18.7.1943 entwichen sei. In einer 1986 erschienenen Publikation ist die Geschichte des ehemaligen Bremer Patienten als Beispiel für eine geglückte Flucht dokumentiert. Damit zählte Jelken zu den insgesamt 29 Frauen und Männern, die zwischen August 1942 und März 1945 versuchten, aus der Mordanstalt zu fliehen.

In Hadamar war man über die Flucht des Mannes derart beunruhigt, dass sofort ein Pfleger nach Bremen geschickt wurde, um den „gemeingefährlichen“ Patienten zurückzuholen. Doch dieser musste unverrichteter Dinge die Rückreise antreten, da der Entflohene „noch nicht ergriffen“ worden war. Hermann Jelken gelang es, nach Bremen zurückzukehren. Hier lebte er bei seiner Mutter, arbeitete nachts als Luftschutzwache und tags als „Blitz-Eilbote“. Parallel dazu wandte er sich mit mehreren Schreiben an den ärztlichen Leiter der Anstalt Hadamar, damit dieser ihm seine Ausweispapiere, die er dringend „zu einem geordneten Leben“ benötige, zusende.

Natürlich hatten seine Bitten keinen Erfolg. Als er sich bei einer Routineüberprüfung nicht ausweisen konnte, brachte ihn die Bremer Polizei umgehend zurück in die Bremer Nervenklinik. Hier berichtete Jelken bei der Aufnahme, dass er„aus Hadamar entwichen sei, weil er nicht sterben und nicht umgebracht werden wollte.“ Er habe dabei einen „ruhigen, glaubhaften Eindruck“ gemacht und „bitterlich“ geweint, erinnerte sich Jahre später der zuständige Pfleger.

Auch ein ehemaliger Oberarzt der Bremer Nervenklinik konnte sich sehr genau an das Ereignis erinnern, als er Ende der 1940er Jahre im Entnazifizierungsprozess nach seinem Wissen über das „Euthanasie“-Programm befragt wurde. Jelken habe zwar über die mörderischen Verhältnisse in Hadamar berichtet, allerdings habe es sich bei ihm „um einen schwer Geisteskranken“ gehandelt, so dass er „dieser Berichterstattung nicht unbedingt Glauben schenken konnte.“ Tatsächlich hatte die Bremer Anstaltsleitung versucht, den Patienten wieder nach Hadamar zu verlegen, aber dort lehnte man seine Wiederaufnahme zu diesem Zeitpunkt ab.

Seine Abschiebung in die Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde zwei Monate später, am 9. 12.1943, überlebte Jelken nur eine kurze Zeit. Ein erneuter Versuch, seinen Mördern zu entkommen, schlug fehl. Am 26. 2. 1944, nur einen Tag nachdem die Polizei ihn aufgegriffen und wieder zurück in die Anstalt gebracht hatte, war der 36-Jährige tot. Die offizielle Todesursache lautete „Herzschwäche bei Grippe“.

Gerda Engelbracht (2016)

Informationsquellen:
Archiv Klinikum Bremen-Ost, Krankenakte Hermann Jelken
Archive des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Außenstelle Hadamar, Krankenakte Hermann Jelken www.gedenkstaette-hadamar.de/webcom/show_article.php/_c-859/_nr-1/_p-1/i.html
StA Bremen 4,66 I, Friedrich Kraus, 4,89/3-5 Js 2758/47
www.gedenkstaette-hadamar.de

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Euthanasie" / Zwangssterilisation
Glossarbeitrag "Heilanstalten"