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Tauba Lipschütz, geb. Blumenfrucht, *1888

ausgewiesen 1938 nach Polen
ermordet in Auschwitz


Sebaldsbrücker Heerstr. 29
Bremen-Hemelingen


Sebaldsbrücker Heerstr. 29 - Weitere Stolpersteine:


Tauba Lipschütz

Tauba Lipschütz

Familienbiografie
Feiwel Lipschütz
Tauba Lipschütz, geb. Blumenfrucht
Jacob Lipschütz
Chana Lipschütz, geb. Kalischer

Die Familie Lipschütz wanderte Ende des 19. Jahrhunderts ins Bremer Umland ein. Feiwels Vater Moses Lipschütz (geb. 1852) war aus dem „Gebiet Hastedt“ kommend seit 1901 in der Sebaldsbrücker Heerstraße 29 gemeldet. Er war seit 1903 mit Scheindel Chana Kalischer verheiratet, die am 31.12.1856 in Krakau geboren worden war. Ihr Sohn Feiwel kam am 15.11.1884 in Noworadomsk/Polen zur Welt.

Moses Lipschütz handelte mit Säcken und Fellen und war daneben als Kantor in der ostjüdischen Gemeinde „Beth Hamidrasch Schomre Schabbos“ (Haus der Schabbath-Hüter) in Sebaldsbrück tätig, deren Knabenchor er leitete. Das Bethaus lag in der Sebaldsbrücker Heerstraße 55. Bereits in seiner früheren Heimat (Tarnow/Galizien) hatte er das Amt des Oberkantors innegehabt. Er starb 1934, sein Leichnam wurde nach Berlin überführt. Feiwel Lipschütz heiratete 1909 in Krakau, dem Wohnort seiner Braut Tauba Blumenfrucht (geb. 24.6.1888 in Krakau). Ihre Eltern waren Jacob und Ratza Blumenfrucht, geb. Tilles. Das Ehepaar hatte vier Kinder: Erna (geb. 1910 in Krakau), Lotti (geb. 1913), Henny (geb. 1921) und Jacob (geb. 4.10.1930), die jüngeren drei in Bremen geboren.

Ursprünglich hatte Feiwel Lipschütz das Schumacherhandwerk gelernt. Er meldete
jedoch 1926 ein Sackgeschäft an, das sich zu einer Sackgroßhandlung mit Reparatur-
betrieb entwickelte. Er belieferte u.a. Mühlen, Industriebetriebe, Wäschereien und Kon-
sumvereine. Mit seinem Betrieb war er zuletzt in der Alexanderstraße 9, einem Gewerbe-
hof im Ostertor, ansässig. In seinem Unternehmen sollen 10 bis 15 Personen beschäftigt
gewesen sein, darunter die Töchter Erna und Lotti in seinem Büro.

Der jüngste Sohn Jacob hatte bis Sommer 1938 die Volksschule in Sebaldsbrück be-
sucht. Für seine schulischen Leistungen erhielt er Noten von befriedigend und ausrei-
chend. Nach seiner Ausweisung aus Deutschland (Oktober 1938, s.u.) besuchte er zuerst
in Krakau und später in Antwerpen die jüdische Volksschule. Dort musste er wieder in
der ersten Klasse anfangen, da er die Landessprache nicht beherrschte.

Die Familie Lipschütz besaß die polnische Staatsangehörigkeit und wurde aufgrund
dessen in Bremen am 27./28.10.1938 Opfer der „Polenaktion“. Nur Vater Feiwel war nicht
davon betroffen, da er sich bei seiner Tochter Erna auf Besuch in Belgien befand. Sie
hatte 1937 in Antwerpen geheiratet und lebte dort. Tochter Lotti schilderte später aus-
führlich die Vorkommnisse in Bremen. Am 27. Oktober arbeitete sie mit ihrer Mutter
im väterlichen Geschäft. Als sie am Nachmittag in die Wohnung zurückkamen, traf sie
dort ihre Geschwister Henny und Jacob sowie die Großmutter Chana im Beisein von
zwei Polizeibeamten an. Diese verhörten alle Anwesenden rüde, um den Aufenthaltsort
des Vaters und den Ausreisegrund zu ermitteln. Die Wohnung wurde durchsucht, Tauba
Lipschütz sollte bis auf 10 RM ihr Geld und ihren Schmuck, den sie trug, auf den Tisch
legen. Nach etwa zwei Stunden wurden sie aufgefordert, mit auf die Polizeiwache zu
kommen, woraufhin die Großmutter in Ohnmacht fiel. Der 17-jährigen Enkelin Henny
wurde erlaubt, zunächst bei ihr zu bleiben.

Auf der Polizeiwache stellten die Festgenommenen fest, dass sich dort bereits weitere
jüdische polnische Staatsangehörige befanden, u.a. die ihnen bekannte Familie Lund-
ner. Henny traf später auch dort ein. Sie mussten die Nacht in einem Polizeigefängnis
verbringen und wurden am nächsten Tag in einer Gruppe von über 80 Deportierten in
Fraustadt/Oberschlesien über die Grenze nach Polen abgeschoben.

Den weiteren Verlauf der Ereignisse in Bremen berichtete Großmutter Chana später ihrer Familie, als diese wieder in Antwerpen zusammen war. Sie selbst fand zunächst Unterschlupf bei ihrer Nachbarin Berta Wiener im selben Haus. Da beide sich allein fürchteten, zogen sie nach einiger Zeit zur befreundeten Familie Flamm in Hastedt. Bei einem späteren Besuch der Wohnung stellte Chana fest, dass ihr gesamter Schmuck und der von Tochter Tauba sowie alles Geld verschwunden waren. Etwas später fehlten auch die Wäsche und andere Gegenstände. An einem anderen Tag kam sie hinzu, als die Gestapo sämtliche Möbel ausräumen ließ. Sie erfuhr auch, dass das Geschäftsinventar ihres Sohnes samt Lager in Lastwagen verladen und abtransportiert worden war. Es hätte „eine große Menge Menschen vor dem Haus gestanden und zugesehen“. Am 23.3.1939 gelang es ihr, nach Antwerpen auszuwandern.

Die nach Polen Ausgewiesenen hatten sich zunächst nach Leszno begeben und lebten
später in Krakau, Taubas Geburtsort. Feiwel Lipschütz versorgte von Belgien aus seine
Familie in Polen mit Geld über einen Silberwarenhändler (Reinhold & Kornreich), der oft
in Antwerpen tätig war. Seiner Ehefrau gelang es, für sich und die Kinder im April 1940
mittels eines hohen Bestechungsgeldes eine 24-stündige Aufenthaltsgenehmigung für
Berlin von der deutschen Stadtkommandantur in Krakau zu bekommen. Sie traf mit den
Kindern dort ein und wohnte bei einer befreundeten Familie in der Prenzlauer Straße.
Da sich die Beschaffung einer Einreiseerlaubnis vom belgischen Konsulat in die Länge
zog, bestach sie mit 4.800 RM erfolgreich einen Polizeibeamten, um nicht sofort wieder
ausgewiesen zu werden. Das Geld soll sie sich von der Gastfamilie und der jüdischen
Gemeinde Berlin geliehen haben. Nach gut zwei Wochen begaben sie sich nach Köln.
Feiwel hatte einen Rheinschiffer gefunden, der sie erwartete und Ende April nach Ant-
werpen schmuggelte. Auf einem großen Fest soll ihm dort das vereinbarte Fluchtgeld
ausgehändigt worden sein.

Kurz darauf – im Mai 1940 – besetzte die deutsche Wehrmacht Belgien; im Oktober 1940
wurde verfügt, dass alle in Belgien lebenden Juden von ihren Wohnortgemeinden zu
registrieren waren. Das Antwerpener Judenregister ist mit seinen über 10.000 Karteikar-
ten erhalten geblieben, darunter auch die Registrierungskarte der Familie Lipschütz. Sie
lebte zuletzt mit Großmutter Chana in der Van den Nestlei Nr. 5, derselben Straße wie
Tochter Erna.

Die Judenkartei sollte die Grundlage für die Deportationen bilden, die im Sommer 1942
in Antwerpen begannen. Am 9.10.1942 wurden Feiwel, Tauba und Jacob Lipschütz in
das belgische Sammellager Mechelen (Kazerne Dossin) eingewiesen, das Datum ih-
rer Verhaftung ist nicht bekannt. Von dort kamen sie als Nr. 626, 627 und 628 mit dem
Transport XIII am 12. Oktober im Vernichtungslager Auschwitz an. In Kosel (Landkreis
Görlitz) wurden Feiwel und der 12-jährige Jacob von der Organisation Schmelt aus dem
Transport aussortiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Am 4.3.1943 tauchte Feiwels
Name noch in den Kommandolisten des KZ Auschwitz auf. Weitere Angaben über ihr
Schicksal sind nicht bekannt.

Tochter Erna hatte 1937 Salomon Einhorn (geb. 1912 in Leipzig) in Antwerpen gehei-
ratet. Sie hatten zwei Kinder, Renée (geb. 1939) und Maurice (geb. 1942). Die Familie
wurde am 1.3.1943 in das Sammellager Mechelen eingeliefert und am 19.4.1943 nach
Auschwitz deportiert, wo sie am 22. April eintraf. Salomons Eltern Nachmann und Rosa
Einhorn waren bereits zuvor im selben Transport wie Ernas Eltern dorthin deportiert
worden. Ihr aller Schicksal ist nicht bekannt.

Feiwels Mutter Chana wurde als letztes Familienmitglied am 3.3.1943 in das Sammel-
lager Mechelen eingeliefert und am 19.4.1943 im Alter von 86 Jahren nach Auschwitz
deportiert. Der Zug erreichte das KZ am 22.4.1943. Nach der Selektion des Transports an
der Rampe im Vernichtungslager wurden von 1.400 Personen 879 in den Gaskammern
ermordet. Aufgrund ihres hohen Alters dürfte sie dazu gehört haben.

Die Töchter Lotti und Henny waren schon zuvor am 18.7.1942 in Antwerpen verhaftet
und am 14. September in das Sammellager Mechelen eingeliefert worden. Sie trafen am
17.9. in Auschwitz ein, erhielten die Nummern 19850 und 19851 jeweils auf ihren Arm
tätowiert und wurden zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie verblieben im Lager bis zu
dessen Räumung im Januar 1945. Nach einem mehrtägigen „Todesmarsch“ kamen sie in
Oderberg (heute Bohumin/Tschechien) an, wurden weiter in Waggons in das KZ Dachau
und anschließend in dessen Außenlager Landsberg/Kaufering verlegt, wo sie in Erdhüt-
ten hausen mussten. Das Lager wurde am 27.4.1945 von der US-Army befreit. Lotti lebte
anschließend wieder in Belgien und emigrierte 1951 mit ihrem Ehemann in die USA;
Henny zog in die Schweiz und heiratete dort.

Im Entschädigungsverfahrens, das die überlebenden Töchter nach dem Krieg führten,
waren die finanziellen Verhältnisse des Vaters zu klären. Dafür verlangte das Landes-
amt für Wiedergutmachung von ihnen noch im Jahre 1967 (sic!) genaue Angaben über
die Höhe der Bestechungsgelder, Dienstgrad und Namen des Stadtkommandanten in
Krakau, Namen und Dienststelle des Polizeikommissariats in Berlin, aktuelle Anschriften
der helfenden (jüdischen) Freunde und der Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Berlin
sowie den Namen des Rheinschiffers.

Peter Christoffersen (2023)

Informationsquellen:
StA Bremen 4,54-E10344; 4,54-E10346; 4,54-E11199; 4,54-E12015; 4,54-E4874; 4,54-Rü5574; Einwohnermeldekartei
Archiv Kazerne Dossin, Mechelen
Dünzelmann, Anne E.: Juden in Hastedt, Bremen 1995, S. 105
Czech, Danuta: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 - 1945, Reinbek bei Hamburg 1989

Weitere Informationen:
Glossarbeitrag "Polenaktion"
Glossarbeitrag Malines / Mechelen
Glossarbeitrag Auschwitz
Glossarbeitrag Ostjüdische Gemeinde